Aus der Geschichte des Luftkrieges über Thüringen:

Die Luftschlacht vom 27. September 1944 über Thüringen und Hessen, Teil 3

Von Eberhard Hälbig

Ihre Bomben trafen auch kein Ziel in Göttingen sondern fielen in ein freies Feld zwischen den Orten Rosdorf, Gross-Ellersdorf und Grone.

Ball Turrets?, die kugelförmigen Geschützstationen am unteren Rumpf der Bomber, Sammlung Hälbig. 

Wahrscheinlich waren sie sich dieser Tatsache nicht einmal bewusst. Deutlich wird das bei der Missionsauswertung. Am 27.September 1944, um 18.45 Uhr fand  im Briefing Raum der 389th BG das sogenannte ?after action  briefing? (die Missionsauswertung) statt. Teilnehmer an diesem Briefing waren Major General Kepner, Brig. General  Johnson, Brig. General Griswald, Col. Arnold, Col. Potts, Col. Jones, Col. Thomas und die Repräsentanten  der beteiligten Bomb und Fighter Groups. Auf die Frage von Col. Arnold an Maj. Graham, den stellvertretenden Missionsleiter, ob er den angegebenen Kurs von 90? - 92? Grad geflogen sei, oder ob die Berichte stimmten das ihr Kurs fast 63? gewesen sei antwortete Maj. Graham: Wir machten zwar eine Kurskorrektur, aber ich denke, sie war nicht so groß. Col. Arnold fragte, ob der Navigator seiner Maschine anwesend sei, was er mit JA beantwortete. Seine Befragung ergab, dass sie der Führungsmaschine gefolgt sind, die einen Kurs von fast 67? flog, was zur Folge hatte, dass das Ziel um etwa 5 Meilen verpasst worden war ? es waren in Wirklichkeit um die 20Meilen.

Das hatte auch zur Folge, dass die 445th BG weit weg von den anderen Bomber Gruppen und ebenso weit weg vom Begleitschutz durch die Jagdflugzeuge war. Die Befragung der Verantwortlichen und von beteiligten Piloten des Begleitschutzes ergab, dass sie zwar die Hilferufe der 445th BG hörten und sie auch sofort aktiv wurden. Aber im Vorfeld dieser Ereignisse hatten sie die 445th BG und deren Kursabweichung nicht einmal bemerkt. Sie vermissten sie nicht und spätere Aussagen, die 445th BG sei wegen der sich auftürmenden Kumuluswolkentürme ihrer Sicht verborgen gewesen kann nicht zutreffen, denn die Wolkendecke war zwar komplett geschlossen aber ?flach? wie ruhige See. Dies und die nicht länger vorhandenen ?Ball Turrets?, der kugelförmigen Geschützstationen am unteren Rumpf der Bomber,  sollte sich jetzt bitter rächen.

Die deutschen Jäger wussten, dass sie nach dem Ausschalten des Heckschützen (allerdings war das allein schon lebensgefährlich, wie wir noch sehen werden) bei einem Anflug von hinten unten, kein großes Risiko eingingen entdeckt beziehungsweise abgeschossen zu werden. Sie flogen im toten Winkel der Beschussfelder des Bombers. 

Ein deutsches Jagdflugzeug nähert sich im toten Winkel dem US- Bomber, Sammlung Hälbig.

Die 445th Bomb Group musste um ihr Leben kämpfen und als sie um 11.54 Uhr die belgische  Küste bei Osstende überquerte und um 12.40 Uhr die englische Küste erreichte waren von den vor wenigen Stunden gestarteten 35 Flugzeugen 6 übriggeblieben. Zwei  landeten auf der Notlandebahn in Manston. Hier gab es eine besonders lange Landebahn für so genannte ?lame ducks?  (?lahme Enten?- wie sie beschädigte Maschinen nannten) und nur ganze vier B-24, die am Morgen zur Mission 650 der 8th USAAF  aufgebrochen  waren, schafften es zurück zum Heimatstützpunkt in Tibenham.

Was war geschehen? Warum flog die 445th BG einen anderen Winkel zum geplanten Kurs als der Rest der Division? Warum flogen die 389th BG und die 453rd BG, unter Missachtung des Befehls der Führungsgruppe zu folgen, den geplanten Kurs nach Kassel während die 445th auf Göttingen zu steuerte? Irrtum des Navigators der Führungsmaschine oder steckte eine bestimmte Absicht dahinter? Gab es Befehle, die niemand anderer als die Offiziere in der Führungsmaschine kannten? Vom militärischen Standpunkt völlig unlogisch. Wenigstens Uebelhoer  als Ersatz für  das Führungsflugzeug hätte in geheime Pläne eingeweiht sein müssen. Aber was ist im Krieg schon logisch? Doch eine geheime Mission wäre mit Sicherheit durch ein ?back up?, eine zweite Option abgesichert gewesen, für den Fall das mit der B-24, die den Verband führte irgendetwas nicht nach Plan verlaufen sollte .Natürlich wäre eine solche ?verdeckte Operation? auch mit jeder Menge Begleitschutz ausgestattet worden. Das wiederum bedeutet, dass viele in das ?Geheimnis? eingeweiht werden mussten. Was genau passierte, weiß  bis heute niemand und das Geschehen bleibt somit ein aktuelles Thema für Spekulationen. Obwohl in der? Field Order 279?, in der der gesamte geplante Ablauf, sowie das  Ziel der Mission fixiert ist ebenfalls keinerlei Hinweise auf eine ?special ops?, eine Spezial Operation der 445th BG enthalten sind und als einziges Ziel der 2nd CBW  Kassel aufgeführt ist, sind die Akten zu diesem Ereignis bis heute nicht freigegeben, was weitere Spekulationen und Verschwörungstheorien geradezu herausfordert.

Den weiteren gesicherten Ablauf des Geschehens können wir  wieder den Aussagen der verantwortlichen Offiziere der verschiedenen am Kampf beteiligen Einheiten entnehmen (389. BG, 453. BG- 355.FG, 4.FG, 361.FG und 479.FG), die sie während des ?after action briefings? am 27.September 1944 abgaben.

Col Everett Stewart: Ich führte  am 27.September 1944 die 354th FS (Fighter Squadron), 355 FG(Fighter Group) und meine primäre  Aufgabe ist es gewesen, der 14th Combat Bombardment  Wing, die an der Spitze der 2nd Air Division flog, Jagdschutz zu geben, als  ich plötzlich einen Hilferuf von den Bombern der 445th BG hörte. Diese riefen  in Panik über Funk nach Jagdschutz, weil sie von einer großen Anzahl deutscher Jäger angegriffen würden. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Jagdflugzeuge mit der 14.CBW schon weit hinter Frankfurt.  Trotzdem schickte er ?Flight Green? und ?Flight Blue? zu einer Rettungsaktion  Richtung Göttingen. Henry W. Brown und Royce W. Priest trafen zwischen  10.00 Uhr - 10.08 Uhr  zwischen Eisenach und Eschwege auf etwa 10 FW 190, von denen sie  drei abgeschossen haben. Diese FW 190 gehörten indes nicht zur Spitze der deutschen Angriffsformationen. Die erste Formation, die auf die Bomber traf war bereits im Kampf oder lag schon am Boden im Eisenacher Land. Sie waren Opfer des Abwehrfeuers der Bomber geworden.

In dem kleinen Dorf Nazza, etwa 20 km von Eisenach entfernt, wie auch in den umliegenden Gemeinden arbeiteten die Menschen zu diesem Zeitpunkt auf den Feldern. Es war die Zeit der Kartoffelernte. Die Besatzungen in den Bombern hatten den Ablauf der Mission als ?Milk Run? verinnerlicht. Schließlich war der Bombenabwurf ohne Flak und Gegenwehr erfolgt. Sie waren auf einem ereignislosen Rückflug und 1Lt. Malcolm J. MacGregor in der B-24 ?Fort Worth Maid?, Pilot 1Lt.Carl J.Sollien  hatte es sich hinter dem Pilotensitz auf der ?Couch?, eigentlich mehr eine Liege , mit einem runden Fenster darüber gemütlich eingerichtet.

Auch die Menschen unten auf den Feldern ahnten nicht, dass dieser Tag kein Tag wie jeder andere werden würde, sondern ein Tag, den sie ebenso wie die Überlebenden der Bomberbesatzungen, nie vergessen würden. Über, oder  in der Nähe des kleinen Ortes Nazza trafen die Flugzeuge der 445th Bomb Group, ohne Begleitschutz  auf die  deutschen Jagdstaffeln?...

- Fortsetzung folgt -

 

Mihla, 22.08.2013